No. 996 – we are only numbers
Acryl, Mischtechnik auf Leinwand, 80x80 cm, 2019 „Wir sind alle nur Nummern“ sagt die Künstlerin selbst über diese Arbeit in verschiedenen Techniken ausgeführt wie Acryl, Kreide, Sand, Marmormehl, Tusche und Sackleinen, Collage auf Leinwand mit Pinsel, Händen und Malmesser im quadratischen Format 80x80 cm. Was es mit den Nummern auf sich hat, folgt zu späterem Zeitpunkt. Zunächst spricht uns eine offene Formensprache von abstrakten Linien und konkreten Formen, von grafischen und stofflichen Bildelementen in einer harmonisch gestimmten Farbskala an: Gedeckte Pastelltöne in Hellblau, Türkis, Rosa, Creme und Blassgelb bestimmen den Farbeindruck dieses in mehreren Schichten angelegten Gemäldes. Durch die Abmischung der kräftigen Primär-Farben Rot, Blau und Gelb mit viel Weiß entsteht eine fast liebliche Stimmung, die Ruhe, Geborgenheit und Harmonie ausstrahlt. Doch ergeben sich beim genaueren Hingucken viele Hinweise auf ein tiefsinnigeres Gedankengut, welches ich im Folgenden erläutern möchte. Roswitha Gronemann hat in den 90er Jahren ein berufsbegleitendes Studium der „Numerologie“ absolviert. Ihr Interesse an der Thematik der Zahlenforschung hat sich dadurch stark gefestigt und ist zu einem stetig wachsenden spirituellen Begleiter ihres Lebens geworden. „Es geht nichts ohne Zahlen und Nummern“ sagt die Künstlerin selbst. Ob das Geburtsdatum - der wichtigsten ersten Nummern - oder die Hausnummer, die Telefonnummer oder die Nummer im Personalausweis, stets sind Nummern als Ordnungssystem mit im Spiel - für die Künstlerin ist hier nichts dem Zufall überlassen. So ist es wenig erstaunlich, dass wir in diesem Gemälde gleich an zwei Stellen Nummern vorfinden. Ausgelöst aus einem ausgedienten Kaffeesack, prangt in der Bildmitte die schöne und schwungvolle „996“, eine besondere Zahl, läßt sie sich doch auch auf dem Kopf lesen, wenngleich in umgekehrter Bedeutung.
Die Komposition des Bildes lässt sich recht einfach in zwei etwa gleichwertige Hälften teilen. Links haben wir eine hellblaue, schwarz umrissene aufstrebende Form, die die linke Hälfte fast vollständig ausfüllt. Mit ein wenig Fantasie würde man eine auf dem Kopf stehende Figur - erinnernd an die Strichmännchen des Begründers der Neuen Wilden“ R.A. Penck - erkennen, wenn auch von der Künstlerin nicht bewusst inszeniert, so doch gerade durch die linienhafte Umrandung recht klar herausgearbeitet. Sieht man diese Figur tatsächlich als Gestalt auf dem Kopf an, so erscheint es, also schultere sie einen Sack aus groben Leinen, einen Kaffeesack, der mittig auch eine Nummer trägt - diese Nummer ist allerdings nicht klar zu erkennen, sondern übermalt und durch eine Raute zeichnerisch umrissen aus ihrem Kontext gelöst. Sieht man die hellblaue Figur im Bild nicht als Wesen auf dem Kopf, so könnte man auch im linken Fragment des Sackleinens eine Art Haus, vielleicht einen Speicher oder Lagergebäude, erkennen. Die blaue Figur teilt in jedem Fall das Gemälde mittig in 2 Hälften, ein rosafarbenes Band mit weiblichen Kurven schiebt die Bildelemente auseinander und erscheint als fluffiger, langgezogener Akt ähnlich wie die weiblichen Akte in den Skulpturen des bekannten Bildhauers der Klassischen Moderne Giacomettis.
In der rechten Bildhälfte dominiert eine helle, mit viel Weiß abgemischte Figur ohne Kopf - an einen griechischen Torso erinnernd - das Bildgeschehen. Die Kopflosigkeit wird durch eine starke, mehrfache Umrandung des Halses verstärkt. Die Schultern sind angeschnitten und um die Brust legt sich wie ein Kleid der Sackleinen eines Kaffeesacks, der in einem kräftig roten Feld fortgesetzt wird. Sollte es ein Kleidungsstück sein, so erinnert es an eine Schürze. Hier mittig in exponierter Lage prangt die Nummer „996“, kraftvoll in schwarzer Kreide umrandet, markiert sie die Taille des Torsos also die Körpermitte. Diese bedeutsame Zahlenkombination wurde von der Künstlerin zufällig aus dem Sackleinen des Kaffeesacks herausgelöst und eher intuitiv als geplant in der Bildmitte platziert. Von der linken Schulter zieht sich in diagonal angeordneten schnellen Strichen eine Art Band, was im Sinne griechischer Skulpturen auch als Schärpe gedeutet werden könnte. Die kritzelichen Striche verdichten sich in Hüfthöhe der Figur zu einem dichten Oval, was im numerischen Sinne als „0“ (Null) der einzig wertneutralen Zahl im Zahlensystem, die weder minus noch plus kennt, die alles und nichts ist, gedeutet werden kann.
„No. 996 - We are only numbers“ - wir sind schon von Geburt an mit Zahlen verwurzelt. Zahlen identifizieren das Neugeborene im Kreissaal, im Personal-ausweis, in der Firma tragen wir eine Personalnummer, die Steuernummer ermöglicht uns einen Bescheid zu bekommen, ohne Versicherungsnummer der Rentenkasse gibt es am Lebensabend kein Geld, wer unsere Telefonnummer nicht kennt, ruft uns nicht an, geben wir unsere Krankenversicherungsnummer nicht an, werden wir ärztlich nicht behandelt. Auch negativ geprägte Zahlen wie Tätowierungen von Häftlingen im Dritten Reich oder das Sterbedatum eines geliebten Menschen: Zahlen prägen uns und haben ihre ganz eigene Symbolik, mit der sich die Künstlerin viele Jahre auseinandergesetzt hat. Warum also die „996“ so prägnant in der sichtbaren Bildmitte? Die „9“ steht vereinfacht ausgedrückt für Entwicklung, Integrität und Weisheit, die „6“ für Überzeugung, Durchsetzung, und Ideale. Die Doppelneun heißt doppelt schnell, ist aber in der Quersumme wieder „9“. Ist es das, was im unbewussten Schaffen der Künstlerin zu diesem aussagekräftigen Bildwerk verholfen hat?
Die poetisch gewählten zarten Farben des Bildes unterstützen diese Bildaussage in jederlei Hinsicht und nehmen gleichzeitig die Schwere der Bedeutung, nur auf Zahlen reduziert zu werden. Entwicklung, Durchsetzung von Visionen und Idealen führen zur Weisheit, ein schöner Gedanke im Hinblick auf den ständigen Prozess des Wachsens und Lernens in einem Leben voller Bewegung, das niemals still steht.
Bela Hüttenhein, Kunsthistorikerin M. A.